Wer war Hildegard von Bingen?
Hildegard von Bingen
1098 - 1179
Hildegard von Bingen hinterließ uns eine umfangreiche Naturheilkunde mit Aderlass und vielen Ratschlägen für die Gesundheit
Was macht die Lehren dieser herausragenden Ordensfrau aus, dass sie uns bis zum heutigen Tag faszinieren und nichts von ihrem Wert und ihrer Richtigkeit verloren haben?

Heutzutage würden wir Hildegard von Bingen wohl als schillernde Persönlichkeit bezeichnen: eine Universalgelehrte mit Charisma und Wortgewalt – und das, obwohl sie für sich wohl ein Leben in Demut und Stille bevorzugt hätte. Erst mit dem ausdrücklichen Auftrag Gottes trat sie für die Welt in Erscheinung.
An dieser Stelle möchten wir einen Einblick in das außergewöhnliche Leben und das umfassende Wirken dieser bemerkenswerten Frau eröffnen.

Wie alles begann …
Im Jahre 1098 geboren als zehntes und letztes Kind der Edelfreien Hildebert und Mechthild, steht ihr Geburtsort nicht mit letzter Sicherheit fest; in früheren Aufzeichnungen wird Schloßböckelheim an der Nahe genannt; seit 1929 wird auch Bermersheim bei Alzey als Geburtsort angenommen.
An Allerheiligen 1112 zieht Hildegard zusammen mit ihrer Lehrmeisterin Jutta von Sponheim in die Klause auf dem Disibodenberg im Nahetal, die neben dem großen Benediktiner-Kloster erbaut wurde. Mit etwa 15 Jahren nimmt sie »den Schleier« unter Bischof Otto von Bamberg und wird Benediktinerin. Nach dem Tode Juttas im Jahre 1136 wird Hildegard als Meisterin des inzwischen entstandenen kleinen Frauenklosters gewählt.
Sie führt ein verborgenes Leben, so dass wir keine Aufzeichnungen über ihr frühes Leben haben. Später beschreibt sie eine außergewöhnliche visionäre Begabung, die sie bereits als Kind erlebte. „Von meiner Kindheit an aber, als meine Knochen, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, bis heute, habe ich diese Schau in meiner Seele, da ich doch schon mehr als siebzig Jahre bin.“ (Briefwechsel mit Wibert von Gembloux)
Im 43. Lebensjahr, im Jahre 1141, aber erhält Hildegard nach eigenen Aussagen von Gott den Auftrag, ihre Visionen schriftlich festzuhalten (Einleitung zum Scivias) „Sage und schreibe, was du schaust und hörst!“ Es kam „ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen.“ Dabei erhielt sie Klarheit in den innersten Sinn der heiligen Schriften. Sie bezeichnet sich selbst als die Posaune Gottes. Eine Besonderheit ihrer Seherbegabung liegt darin, dass sie die Schauungen „nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit … sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste erlebt, so wie Gott es will.“
Nach anfänglicher Weigerung schrieb sie zehn Jahre lang an dem Visionswerk »Scivias lucis« – Wisse die Wege des Lichtes -, wobei sie der Disibodenberger Mönch Volmar bis an sein Lebensende als Sekretär unterstützte. Sie blieb aber weiterhin in der Verborgenheit.


Der Weg in die Selbständigkeit
Erst als Papst Eugen III. auf der Synode zu Trier 1147 ihre Sehergabe anerkannte, verbreitete sich ihr Ruhm im ganzen damaligen Abendland. Auf dem Disibodenberg hatte Hildegard viele Leiden und Kämpfe durchzustehen, weil ein Teil der Mönche sie stark befeindete, wie wir es im Briefwechsel lesen. Sie sagten: „Wie kann es sein, dass einem ungelehrten Weibe solche Geheimnisse anvertraut werden?“ In dieser Not erhielt sie in einer Vision den Auftrag, ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen zu gründen. So siedelte sie noch im Jahre 1147 auf den Rupertsberg über.
Weil der Abt ihrem Weggang starke Hindernisse entgegensetzte und die Güter und das Geldvermögen der Schwestern nicht herausgab, lebten sie anfangs in großer Armut. Mit Hilfe einiger Gönner konnte sie dann ihr eigenes Kloster bauen, wo sie bis zu ihrem Tode lebte. Sie erkämpfte sich in vielen Auseinandersetzungen mit dem Abt vom Disibodenberg ihre Unabhängigkeit und die Herausgabe der Güter. Auch die wirtschaftliche Leitung übernimmt Hildegard selbst und lehnt einen weltlichen Vogt ab. Von Kaiser Barbarossa erbittet sie sich für ihr Kloster einen Schutzbrief, den er im Jahre 1158 ausstellt. Darin wird Hildegard zum ersten Mal als Äbtissin angesprochen.
Auf dem gegenüber liegenden Rheinufer gründet sie im Jahre 1165 ein zweites Kloster für 30 Schwestern aus dem Bürgertum, wogegen auf dem Rupertsberg nur Adelige aufgenommen werden. In diesem Kloster lebt sie zwar nicht, aber sie leitet es, indem sie mit dem Boot zwei Mal wöchentlich über den Rhein fährt.


Weitreichende Wirksamkeit
Auf dem Rupertsberg erreichte Hildegard eine uneingeschränkte Anerkennung in der damals bekannten Welt. Es waren ihre fruchtbarsten Jahre. Ihre Bücher wurden weit verbreitet, sie hatte einen ausgedehnten Briefwechsel und war als Ratgeberin sehr gesucht. Auf insgesamt vier Missionsreisen ereichte sie viele Menschen.
Ihre Schriften
1. Das bereits genannte Liber Scivias (Wisse die Wege) entstand von 1141 bis 1151. Das Werk beschreibt in gewaltigen symbolischen Bildern die Schau göttlicher Geheimnisse, die Schaffung des Kosmos und des Menschen, die Erlösung durch Jesus Christus, den Auftrag der Kirche und prophetische Bücher über die Endzeit.
2. Die medizinische Schrift, das „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“ (Buch vom inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe), entstand in den Jahren 1151 bis 1158 und ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil trägt den Titel „Liber simplicis medicinae“ (Das Buch von der einfachen Medizin), heute bekannt als Physica. Der zweite Teil heißt „Liber compositae medicinae – Causae et curae“ (Das Buch von den Ursachen und der Behandlung von Krankheiten). Diese beiden Bücher werden auch im Kanonisationsprotokoll (im Protokoll für die Heiligsprechung) wörtlich als von Hildegard selbst geschrieben genannt.
3. Das „Liber vitae meritorum“ (Buch der Lebensverdienste) entstand von 1158 bis 1165. Hier wird der sittliche Kampf des Menschen beschrieben: Die Gotteskräfte der Tugenden ringen mit den zerstörerischen Kräften der Laster, die Hildegard als entstellte Gestalten schaut. Es geht um den inneren Kampf und die ethischen Entscheidungen des Menschen und um seine weltweite Verantwortung.
4. Das „Liber divinorum operum“ (Das Buch der göttlichen Werke), das ausgereifteste Werk Hildegards, schrieb sie von 1163 bis 1173. Es enthält gewaltige Visionen über das unermessliche Bauwerk des Kosmos, über den Menschen als Kosmos im Kleinen, über die tiefen Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch, Leib und Seele, Gott und Mensch.
Ausgedehnter Briefwechsel
Nachdem Papst Eugen III. ihre Sehergabe bestätigt hatte, wurde Hildegard weithin bekannt. Sie wurde angefragt als Ratgeberin von vielen angesehenen und mächtigen Persönlichkeiten in Kirche und Welt. Ein umfangreicher Briefwechsel ist bis heute erhalten (etwa 300 Briefe), in dem sich neben Ermutigung auch häufig Ermahnungen finden.


Himmlische Musik
Hildegard sagt, dass sie bei ihren Visionen den Gesang der Engel gehört habe. Dies versuchte sie in Noten zu fassen, wobei sie die im 12. Jahrhundert übliche Form der Kirchentonarten zugrundelegt, aber gleichzeitig weit darüber hinausgeht. Sie verfasste Text und Musik von 77 Liedern und das Singspiel „Ordo virtutum“, die Ordnung der Kräfte. In den letzten Jahren haben verschiedene Gruppen die Musik aufgeführt, wovon man auch CDs erwerben kann.
Die letzten Jahre
Ihre letzten Lebensjahre werden überschattet von einem Konflikt mit dem Domkapitel in Mainz. Hildegard hatte einen unter Acht und Bann stehenden, exkommunizierten Edelmann im Kloster pflegen lassen. Dieser hat seine Tat gebeichtet, durfte die Sterbesakramente empfangen und ist gestorben. Auf Geheiß von Hildegard wurde er auf dem Klosterfriedhof beerdigt. Das Domkapitel forderte die Exhumierung, die Hildegard verweigerte. Daraufhin wurde Interdikt über ihr Kloster verhängt: Kein Glockengeläut, kein Gottesdienst, kein Gesang mehr. Erst nach monatelangen aufreibenden Verhandlungen hebt Erzbischof Christ von Mainz das Interdikt auf.
Hildegards Tod
Drei Monate danach, am 17. September 1179, stirbt Hildegard in ihrem Kloster auf dem Rupertsberg. Sie ist 81 Jahre alt. Die Vita, ihre Lebensbeschreibung aus dem 12. Jahrhundert, berichtet von einer Lichterscheinung in der Todesnacht: zwei Bogen von verschiedenen Farben dehnen sich am Himmel nach den vier Weltgegenden aus. Dort wo die Bogen sich kreuzen, strahlt ein helles, mondförmiges Licht, in dem ein großes, rot schimmerndes Kreuz sichtbar wird. Dann erscheinen viele solcher Lichtkreise mit roten Kreuzen am Himmel verteilt.


Wie bereits zu ihren Lebzeiten sollen auch nach ihrem Tod wunderbare Heilungen geschehen sein: Kranke berührten den Leichnam und wurden gesund. Der Reliquienschrein mit Gebeinen Hildegards, ihrem Schädel und den mumifizierten Organen Herz und Zunge befindet sich heute in der Wallfahrtskirche Rüdesheim-Eibingen.
(Auszug aus dem Buch „Heilung an Leib und Seele“ von Hildegard Strickerschmidt)
